Vortrag vom 17. November 2025 von Prof. Dr. Ruben Zimmermann, Universität Mainz
Zusammenfassung erstellt von Katja Leimeister
Im Rahmen der Ringvorlesung “Transformationen” skizzierte der Mainzer Theologe und Ethiker Prof. Dr. Ruben Zimmermann, wie eine Ethik des Verzichts zur Transformation unseres Konsums beitragen kann. Als Geisteswissenschaftler brachte er eine ungewohnte Perspektive an die Technische Hochschule: Nicht technische Lösungen standen im Vordergrund, sondern die Frage, wie Menschen ihr Handeln bewerten, begrenzen und verändern – individuell wie gesellschaftlich.
Ausgangspunkt seines Vortrags war die These: Die Transformation des Konsums gelingt besonders gut, vielleicht sogar nur, wenn Menschen ein reflektiertes „Verzichtsverhalten“ entwickeln. Verzicht ist dabei nicht moralische Selbstkasteiung, sondern eine eigenständige ethische Praxis.
Transformation: Wandel mit Kontinuität
Zimmermann knüpfte zunächst an verschiedene Transformationsbegriffe aus Mathematik, Molekularbiologie, Soziologie und Wirtschaft an. Trotz unterschiedlicher Kontexte lassen sich gemeinsame Strukturmerkmale erkennen:
· eine Zeitdimension (vorher – nachher),
· ein Übergang von alt zu neu,
· Anlass und Anpassung durch äußere Faktoren oder Krisen,
· ein systemischer Wandel, der Kontinuität und Diskontinuität verbindet.
Anhand von Uwe Schneidewinds Konzept der „Großen Transformation“[1] zeigte Zimmermann, dass die aktuellen sozial-ökologischen Krisen einen umfassenden Umbau von Technik, Ökonomie und Gesellschaft erzwingen. Transformation wird dabei als „Zukunftskunst“ verstanden, in der Faktenwissen und Alarmismus mit Kreativität, Gestaltungslust und Experimentiermut verbunden werden.
Eine Besonderheit des Vortrags war der theologische Blick: Am Beispiel des frühen Christentums, der Reformation und der biblischen Figur Paulus erläuterte Zimmermann, dass Umkehr und Veränderung – was heute mit dem Begriff „Mindshift“ verbunden wird – in die DNA des Christentums eingeschrieben sind. Transformation war hier nicht Bedrohung, sondern Grundmotiv einer Religion, die Alt und Neu, Kontinuität und Bruch miteinander verschränkt.
Was ist Verzicht? Vom Rechtsanspruch zum Mindset
Im zweiten Schritt klärte Zimmermann den Begriff Verzicht. Der Duden versteht ihn als das Nicht-Geltend-Machen eines Anspruchs oder das Aufgeben eines Wunsches. Sprachgeschichtlich ist „verzichten“ mit „verzeihen“ verwandt: Ursprünglich ging es um den Verzicht auf Vergeltung oder Schadensersatz, obwohl ein Rechtsanspruch besteht.
Damit ist eine zentrale Pointe gesetzt: Verzicht bedeutet nicht, dass etwas grundsätzlich schlecht wäre. Im Gegenteil: Häufig wird auf etwas Gutes verzichtet – aus Rücksicht auf andere Güter oder höhere Ziele.
Zimmermann fasst seine Verzichtsethik in einer „Matrix“[2] zusammen:
1. Wer verzichtet?
Verzicht setzt ein handlungsfähiges, autonomes Subjekt voraus – und reale Optionen. Wer etwa keinen Zugang zu bestimmten Gütern hat, kann darauf nicht verzichten.
2. Wie wird verzichtet?
Verzicht ist ein bewusster, freiwilliger und oft mühsamer Akt. Wird Verhalten durch Gesetze, Mangel oder Verbote erzwungen, handelt es sich nicht mehr um Verzicht, sondern um Restriktion.
3. Auf was / worauf wird verzichtet?
Verzicht kann sich auf existenzielle Grundbedürfnisse (z. B. Schlaf in der Wettkampfsituation), elementare Fähigkeiten und Rechte (Freiheit), materielle Güter (Geld, Genussmittel) oder immaterielle Güter (Status, Macht) beziehen.
4. Wann und wo ist Verzicht angemessen?
Kontexte und Lebenslagen sind entscheidend. Zimmermann plädiert für Flexibilität statt Universalität – für eine situative, kontextuelle Ethik statt starrer Prinzipien.
5. Warum und wozu wird verzichtet?
Verzicht ist Ausdruck einer Güterabwägung: Gesundheit, Schadensvermeidung, Tierwohl oder ökologische Ziele können schwerer wiegen als kurzfristiger Genuss.
6. Weshalb kann verzichtet werden?
Individuelle Disposition, soziale Einbettung (Gruppen, Bewegungen) und spirituelle Ressourcen ermöglichen Verzicht – etwa wenn religiöse Überzeugungen Menschen befähigen, auf Vergeltung oder bestimmte Ansprüche zu verzichten.
Zimmermann macht deutlich, dass Verzicht keine Randerscheinung menschlichen Handelns ist, sondern ein grundlegender Bestandteil unseres alltäglichen Lebens. Viele Menschen verzichten bereits regelmäßig – etwa aus gesundheitlichen, sozialen oder familiären Gründen –, ohne dies als bewusste Verzichtspraxis wahrzunehmen. Er formuliert zugespitzt: „Wir Menschen sind viel mehr Verzichtswesen, als wir denken.“
Der Satz markiert den Übergang von einer rein theoretischen Definition hin zur Einsicht, dass Verzicht bereits heute ein praktiziertes Handlungsmuster ist, das in vielen Lebensbereichen Orientierung bietet.
Wachstum, Glück und die Grenzen des „Mehr“
Im dritten Teil richtete Zimmermann den Blick auf Konsum und Wirtschaft. Ein weit verbreitetes Narrativ lautet: Mehr Wachstum führt zu mehr Wohlstand und damit zu mehr Glück. Er verwies auf die Langzeitstudien des Ökonomen Richard Easterlin: Ab einem bestimmten Wohlstandsniveau steigt das subjektive Glück trotz weiter wachsender Wirtschaftsleistung kaum noch an.
Postwachstumsansätze (Niko Paech) und Transformationsmodelle (Stefan Brunnhuber) versuchen darauf Antworten zu geben: durch Suffizienz, Regionalökonomie und Umbau bestehender Wirtschaftssysteme. Verzicht erscheint hier nicht als Rückschritt, sondern als Befreiung vom Überfluss.
Parallel dazu diskutierte Zimmermann neue Konsumforschung: „Consumer Wisdom“ und „Konsumenten-Empowerment“ rücken die Fähigkeit in den Mittelpunkt, Konsumentscheidungen bewusst zu steuern. Der BWL-Professor Ingo Balderjahn argumentiert, dass gerade Konsumverzicht zu neuer Zufriedenheit führt, weil Menschen Kontrolle über ihr Verhalten zurückgewinnen.
Verzicht in der Praxis: Fleischkonsum und Flexitarier
Konkret wurde der Vortrag am Beispiel des Fleischkonsums. In Deutschland leben aktuell rund 2 % vegan und 8 % vegetarisch; die Gesamtzahl vegetarisch oder vegan lebender Personen ist seit Jahren relativ konstant.
Trotzdem wächst der Markt für pflanzliche Fleischersatzprodukte stark. Erklären lässt sich das über die Gruppe der Flexitarier: Menschen, die ihren Fleischkonsum bewusst reduzieren, aber nicht vollständig darauf verzichten.
Hier zeigt sich die Logik der Verzichtsethik besonders klar:
· Verzicht bedeutet nicht, „alles“ aufzugeben, sondern selektiv zu reduzieren.
· Es geht nicht um starre Identität, sondern um situativen, kontextbezogenen Verzicht.
· Verbraucherseitig entsteht ein Mittelweg: weniger Fleisch, mehr Alternativen – und damit ein attraktiver Markt für „Verzichtsprodukte“.
Zimmermann deutete den Flexitarier als prototypischen Akteur einer Verzichtsethik: nicht ideologisch, sondern pragmatisch, offen für Experimente und zugleich wirksam für ökologische Transformation.
Mit Verzicht in die Kreislaufwirtschaft: „Ware2Share“ und „Wear2Share“
Als zweites Anwendungsfeld stellte Zimmermann Kreislaufmodelle vor, die Eigentum durch geteilte Nutzung ersetzen. Beispiele sind Carsharing-Modelle, aber auch Modelle, in denen Werkzeuge oder Kleidung gegen Gebühr geliehen werden können.
Eine Studie des Fraunhofer ISI zeigt, dass Textil-Kreislaufmodelle gegenüber konventionellem Konsum erhebliche ökologische Vorteile bringen: rund 30 % weniger CO₂-Emissionen, 30 % geringerer Energieeinsatz und 40 % weniger Wasserverbrauch.
Verzicht heißt hier: Verzicht auf exklusives Eigentum, aber nicht auf Mobilität, Funktionalität oder Stil.
Grenzen der Verzichtsethik
Im letzten Teil des Vortrags richtete Zimmermann den Blick auf die gesellschaftlichen Folgen eines überdehnten Anspruchsdenkens. Moderne Sozialsysteme – vom Gesundheitswesen bis zur Pflege – geraten nicht nur durch äußere Belastungen an ihre Grenzen, sondern auch dadurch, dass vorhandene Rechte zunehmend vollständig ausgeschöpft werden, selbst wenn dies individuell nicht zwingend notwendig wäre. Verzicht gewinnt hier eine soziale Dimension: Er schützt gemeinsame Ressourcen und ermöglicht Solidarität innerhalb komplexer Versorgungssysteme.
Vor diesem Hintergrund formuliert Zimmermann einen Kernpunkt seiner Ethik besonders prägnant:
„Nicht jedes Recht muss in Anspruch genommen werden, weil sonst gute Systeme ausgehöhlt werden.“
Mit diesem Satz verweist er darauf, dass bewusste Selbstbegrenzung nicht nur individuelle Einsicht, sondern ein Beitrag zur Stabilität gemeinschaftlicher Strukturen ist – und damit zu einer nachhaltigen Transformation, die über den eigenen Konsum hinausreicht.
Vom Verzicht zur Gestaltung neuer Wertschöpfung - Chancen in der Circular Economy
Zimmermann betonte, dass Verzicht nicht mit Rückzug aus ökonomischen Zusammenhängen verwechselt werden darf. Im Gegenteil: Formen bewusster Selbstbegrenzung können öffnen, nicht schließen – nämlich Räume für neue Geschäftsmodelle, für Innovation und für eine nachhaltigere Wertschöpfung. Hier bietet die Circular Economy ein besonders anschauliches Beispiel: Sie beschreibt Wirtschaftsmodelle, in denen Produkte langlebig, reparierbar, wiederverwendbar und recycelbar gestaltet werden und Materialien möglichst im Kreislauf bleiben.
Die zuvor skizzierten Modelle des Teilens und Wiederverwendens lassen sich als konkrete, alltagsnahe Bausteine dieser zirkulären Logik verstehen. Ob Carsharing, Werkzeugbibliotheken oder Textilleasing – sie alle reduzieren Ressourcenverbrauch und Emissionen, ohne Komfort oder Zugangsmöglichkeiten zu beschneiden.
Noch deutlicher wird das Potenzial auf systemischer Ebene: Die Circular Economy nimmt die gesamte Wertschöpfungskette in den Blick – vom Design über die Produktion bis zur Wiederaufbereitung. Unternehmen, die Produkte modular gestalten, auf langlebige Materialien setzen oder Reparaturservices anbieten, schaffen neue Märkte und stärken ihre Resilienz gegenüber Rohstoffknappheit. Dass dies kein theoretisches Ideal ist, zeigt der zunehmende politische Rückenwind: Bunesländer wie Nordrhein-Westfalen definieren die Circular Economy längst als strategisches Zukunftsfeld, das Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz verbindet.
Damit greift Zimmermanns Argumentation weit über individuelle Konsumentscheidungen hinaus. Verzicht wird zu einem Impulsgeber für wirtschaftliche Transformation – nicht als Einschränkung, sondern als Voraussetzung für neue Formen von Wohlstand innerhalb planetarer Grenzen. Die Chancen ergeben sich genau dort, wo gesellschaftliche Akteure beginnen, Ressourcen nicht länger linear zu verbrauchen, sondern zirkulär zu gestalten.
[1] Uwe Schneidewind: Die Große Transformation: Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt 2018
[2] Ruben Zimmermann, Warum weniger gut sein kann. Eine Ethik des Verzichts, Stuttgart 2025,
