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Vom Wiener Schmäh, Rindern und New Work Mindset ...

Ein Beitrag von Lucia Wenderoth

 

„Entschuldigung, Entschuldigung, Sie haben da was verloren“ ruft mir der junge Verkäufer von der Feinkosttheke des Naschmarktes zu, während ich mit meinen mainproject-Kollegen durch dessen engen Gassen flaniere. Auf den ersten Blick erscheint unsere Umgebung vielleicht etwas ungewöhnlich - kennt man uns doch eher aus den Vortragsräumen der Hochschule oder digitalen Zoom-Meeting Räumen unserer hybriden Veranstaltungen. Auf den zweiten Blick macht unsere Reise nach Wien durchaus einen Sinn.

 

 Wir haben hier eine Mission mit dem Ziel, in Zusammenarbeit mit unserer bereits langjährigen Kooperationspartnerin Barbara Wietasch von „Wietasch & Partner“ und Eva-Maria Danzer von „The Company Journey Guides“ ein Conceptathons zu einer Lernreise mit dem Thema „New Work Mindset” zu entwickeln und das darauf basierende, dreitätige Boot-Camp zu planen. Vielen, die unsere Arbeit verfolgen, wird das sicherlich ein Begriff sein, denn das Thema New Work begleitet uns nicht ohne Grund schon länger.

 

Aber zurück zum Naschmarkt, auf den wir nicht nur von unserem Hotel aus direkt blicken konnten. Dieser beliebte Treffpunkt der Wiener schien auf unserer Reise (zumindest aus meiner Sicht) eine ganz besondere Rolle zu spielen. Nirgendwo wie hier haben sich auf relativ begrenztem Raum so viele unterschiedliche Nationalitäten, geschäftliche Tüchtigkeit, hungrig und durstig schlendernde Besucher und vor allem anregende Diskussionen versammelt.

 

Ein geradezu dafür prädestiniertes Beispiel lieferte uns der besagte Verkäufer von der Feinkosttheke. Seine „Sie haben da was verloren-Masche“ hat gezogen (zumindest bei mir) und kurbelte dessen Geschäfte wohl tagtäglich aufs Neue an. Natürlich schaute ich nichtsahnend runter auf den Boden. Was ich da sah? Zunächst nichts außer ein paar alten, in der Hitze der Sonne noch klebriger wirkenden Kaugummis auf dem Asphalt. Beim Aufschauen überraschte mich dafür eine prall gefüllte, riesige Olive direkt vor meiner Nase. Ich musste nur noch meinen Mund aufmachen und abwarten, bis sie darin landet. Der Köder war verschluckt und es gab kein Zurück mehr: Innerhalb von zehn Sekunden hat der Verkäufer seinen Kollegen, den er neckisch „Schwester“ nannte, einen Tisch inclusive vier Stühlen für uns aus dem Boden stampfen lassen. Eine weitere Steigerung dieser Dienstleistung in Lichtgeschwindigkeit stellte ich mir nur noch im Anbringen von Stofflätzchen und einer personalisierten Fütterung à la Kleinkind vor. Etwas Mündigkeit hat man uns dann doch noch gewährt und ließ uns einen Antipasti-Teller und Wein unserer Wahl aussuchen.

 

Diese Art des offensiven Geschäftemachens mit dem Beigeschmack einer Zwangsbeglückung scheint hier auf dem Markt angebracht zu sein. Man stelle sich aber vor, wir von mainproject würden in unseren Vortragsreihen, Workshops und Seminaren nicht nur darüber sinnieren, wie die KMU´s von heute mit ihren täglichen Herausforderungen bestenfalls umgehen sollten, sondern würden einfach mal morgens vor der Firmentür stehen und zu einer Vollversammlung aufrufen. Darin würden wir dann souverän-lässig den Mitarbeitern mitteilen, dass ab sofort bei allen unseren Aktivitäten für den Mittelstand eine Anwesenheitspflicht herrscht und wir zukünftig davon absehen Empfehlungen auszusprechen, sondern auf indiskutable Dogmen und deren Befolgung setzen.

 

Unser Ansatz bei der Entwicklung des neuen Conceptathons ist ein ganz anderer. Schließlich basiert dieses neue Format des New Works und des New Learnings auf Teamwork, Kollaboration und Learning mit unmittelbar verwendbaren Arbeitsergebnissen. Was dabei auf keinen Fall fehlen darf sind Spaß, Kreativität und Teamspirit bei der Konzeption. Das Grunddesign ist hierbei ganz bewusst in sogenannten Sprints angelegt, auf diese Weise sollen in kurzer Zeit qualitativ hochwertige Arbeitsergebnisse erzielt werden. Nachdem das Konzept soweit klar ist, geht es an die konkrete Ausarbeitung und Planung des bereits für September 2022 geplanten Boot-Camps, bei dem in Kooperation mit allen interessierten Unternehmensvertretern eine Guideline für das eben genannte Conceptathon entwickelt werden soll.

 

Dafür treffen wir uns mit der Barbara Wietasch in ihren Büroräumen in einem urig-schicken Wiener Viertel unweit des Praters. Wer Altbau mag, würde dieses Viertel, diese Straße, dieses Haus und vor allem Barbaras Wohnung lieben: Großzügig geschnittenes Treppenhaus, Eingangstüren aus weiß lackiertem Holz, kleiner Retro-Aufzug und überall eine Deckenhöhe, die schier nicht zu enden wollen scheint. Mein absolutes Highlight waren die knarrenden Dielenböden und noch mehr weiße Türen mit goldenen Türklinken, kombiniert mit pinkfarbenen Drehsesseln und einem XXL-Glastisch in dem Besprechungsraum. Ich fühlte mich dort wie in einem Schlösschen, welches kurzerhand minimalistisch-modern eingerichtet wurde, den Charme des Alten aber nie verloren hat.

 

Eigentlich ähnlich wie die Wiener Urgestalten selbst, von denen man auf dem Naschmarkt beim genauerem Hinsehen etliche entdecken konnte. Diese in weißen Hemden gekleideten Herren und schicke Etuikleider tragenden Damen mit ihren Wein- und Aperolgläsern in der Hand, sprühten geradezu vor Wiener-Flair, gepaart mit einem Hauch südländischem „La dolce Vita“. Wo ich nur hinschaute sah ich genau diese Menschen kokettieren, diskutieren, essen, trinken und lachen. Mit einem von ihnen, einem älteren Herrn mit ebenfalls weißem Hemd und einer recht abgewetzten Aktentasche aus braunem Leder, kam ich ins Gespräch. Er war charmant und direkt zugleich, was mich zu der Annahme brachte, dass es sich hierbei genau und das berühmt berüchtigte Wiener Schmäh handeln müsste. Während er genüsslich an seiner Zigarette zog, versuchte er mich in die Denkweise eines Wiener Urgesteins einzuweihen und wurde nicht müde, immer wieder fast schon stolz zu betonen, dass die Österreicher bei der Restaurierung ihrer Hauptstadt nicht gekleckert, sondern geklotzt haben. Schon gesellte sich ein zweiter Herr dazu, der seinem Job als Kellner an dem Stand gegenüber scheinbar kurz zu entfliehen versuchte. Er klopfte dem alten Herrn auf die Schulter, man kennt und mag sich hier untereinander offensichtlich.

 

Unsere Wiener-Ortskenntnisse haben uns zugegebenermaßen kurzzeitig verlassen, oder war es eher ein kleines, kommunikatives Missgeschick? Als wir uns am ersten Abend unserer Ankunft mit der Barbara Wietasch zum Abendessen in dem vor allem für seinen Tafelspitz bekannten Restaurant „Plachutta“ treffen wollten, wunderte sich unser mainproject-Team doch sehr, als die ausgemachte Uhrzeit erst um 30, dann um 45 und schließlich um ganze 60 Minuten überschritten wurde. „Das sieht Barbara gar nicht ähnlich“, waren wir uns alle einig. „Nicht dass etwas passiert ist“ machte man sich schließlich sogar Sorgen. Was zu dem Zeitpunkt keiner von unserem Team ahnte: Es gibt in Wien nicht ein „Plachutta“, sondern gleich fünf „Plachuttas“. Wir entschieden uns für das Restaurant, dessen Adresse im Impressum der Webseite stand, Barbara reservierte dagegen bei dem Schwesterrestaurant gegenüber der Wiener Oper. Und so saßen wir zur richtigen Zeit am falschen Ort, unser Bier und Wein trinkend und über die möglichen Gründe für Barbaras Fernbleiben diskutierend. Barbara, sitzend in dem richtigen Restaurant und sich ebenfalls nach unserer Abwesenheit fragend, ergrifft die Initiative und ließ ihren Kellner in unserem Restaurant anrufen (sie hat Ihre Handy zu Hause vergessen). Er sollte herausfinden, ob sich dort eventuell ein paar Deutsche verirrt haben und irritiert schauend an einem Tisch sitzen, der eigentlich gar nicht für sie reserviert gewesen ist. Fehlanzeige. Nach einem kleinen Check hat man Barbara wissen lassen, dass in dem Hauptrestaurant alles in Ordnung sei und weder vier Deutsche zu viel noch vier Deutsche irritiert wären. Schließlich hatten wir es wohl Barbaras Hartnäckigkeit und Intuition zu verdanken, dass aus diesen zwei Parallelveranstaltungen eine gute Stunde später doch noch ein gemeinsames Abendessen wurde, nachdem sie uns vier „verlorene Söhne und Töchter“ auf frischer Tat beim Vertilgen von Tafelspitz, Wiener Schnitzel und Schwammerln mit Dukaten erwischt hat (der pure, verzweifelte Hunger zwang uns zu diesem normalerweise ungebührlichen Verhalten).

 

Bei dem neuen Konzept soll alles anders laufen, hier ist der intensive Austausch und Kommunikation das A und O. Von Planung der Problemstellungsphase, über die Entwicklung eines Prototyps, bis hin zum Social Event am Abend (hier herrscht das höchste Gebot, alle an EINEN Ort zu bekommen), wir überlassen diesmal nichts dem Zufall oder Schicksal und hoffen jetzt schon, dass alle Teilnehmer unser dreitägiges Boot-Camp voller positiver Eindrücke und neuem Tatendrang verlassen.

 

Mit ähnlich unvergesslichen Eindrücken habe auch ich, vielleicht sogar wir alle, die wunderschöne Stadt Wien nach ziemlich genau 48 Stunden Aufenthalt verlassen. Und einer meiner letzte Blicke vor dem Einstieg in die Straßenbahn Richtung Hauptbahnhof galt - wie könnte es auch anders sein, dem Naschmarkt. Dort wurde ich zum letzten Mal mit dem Plakat und seinem Slogan „Ich will ein Rind von Dir“ konfrontiert und dachte nur: „Ach Wien, ich will kein Rind von Dir und ein sechstes Restaurant namens „Plachutta“ brauche ich auch nicht. Was ich aber auf jeden Fall möchte, ist möglichst bald noch einmal herzukommen um Deine Mischung aus Charme und Schmäh nochmals live zu erleben.“