Beitrag von Katja Leimeister zum Vortrag von Prof. Dr. Carsten Reuter im Rahmen der Ringvorlesung „Krisen und Auswege“ am 28. November 2022
Selten wurde so viel über (gestörte) Lieferketten berichtet wie in jüngster Zeit: Klopapier und Nudeln schafften es 2020 in die Schlagzeilen. Fehlende Chips für die Elektronikindustrie ebenso wie der Füllstand der Gasspeicher finden aktuell in den Nachrichten Premiumplätze. Knappheit an Baumaterial und ein Mangel an LKW-Fahrern werden regelmäßig thematisiert. Bei Unternehmen und Verbrauchern entstehen zunehmend Unsicherheiten darüber, ob Produkte wie gewünscht geliefert werden und ob Projekte „im Plan“ bleiben können.
Was sind Lieferketten eigentlich?
In einer komplexen, globalisierten Welt ist es legitim, den Begriff Lieferkette – auch Supply Chain genannt – zu hinterfragen. Betrachtet man beispielsweise ein produzierendes Unternehmen so sind auf der einen Seite – der Einkaufsseite – oft zahlreiche Zulieferer zu managen. Diese wiederum haben ebenfalls viele Zulieferer, die wiederum auch Zulieferer haben und so weiter. Auf der Verkaufsseite hat das Unternehmen dann auch wieder eine Reihe von Kunden ersten Grades, die dann unter Umständen über mehrere Stufen (Großhandel, Einzelhandel) das Produkt zum Endkunden bringen. Dazwischen befinden sich dann noch die Logistikunternehmen, die den Warenfluss gewährleisten. Sieht man auf ein einzelnes Teil, ist der Begriff der Kette also nachvollziehbar, betrachtet man das komplette System, ist Netzwerk vielleicht der sprechendere Begriff.
Während der Warenfluss von links (Quelle) nach rechts (Senke) geht, fließt das Geld in die gegensätzliche Richtung. In den Lieferketten sind sowohl „nach links“ als auch „nach rechts“ Informationen zu teilen. Da geht es um Bestellmengen, Preise, Liefertermine etc.
Die in der Literatur als „ultimate Supply Chain“ bezeichnete Lieferkette zeigt – immer noch – vereinfacht, wie ein solches Netzwerk am Lieferanten und Kunden aussieht. In der Realität haben beispielsweise weltweit vernetzte Unternehmen wie VW mehr als 40.000 direkte Lieferanten.
Das Managen von komplexen Lieferketten bedeutet für Unternehmen einen hohen Aufwand. Dabei haben Unternehmen bisher vorwiegend zwei Ziele verfolgt: Kosteneffizient und/oder besonders reaktionsfähig sollen sie sein. Die Resilienz gegen Krisen wurde kaum berücksichtigt.
Wie Krisen die Lieferketten sprengen können
Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Betrachtet man eine Lieferkette oder ein Liefernetzwerk, wird schnell klar, was gemeint ist. Fällt einer der Zulieferer aus, kann es schnell im System zu Problemen kommen. Die jüngste Geschichte liefert uns hierzu zahlreiche nachvollziehbare Fälle: Ob Pandemie, Umwelteinflüsse, technisches oder menschliches Versagen oder politisch ausgelöste Krisen, - die Lieferketten sind in ganz vielen Bereichen gerade nicht als robust zu bezeichnen.
Ein paar Beispiele:
Die Evergiven (Frachtschiff) blockiert 2021 nach menschlichem Versagen den Suez Kanal für 6 Tage. 213 Frachter werden an der Durchfahrt gehindert. Unter anderem die deutsche Fahrzeugindustrie wartet auf dringend benötigte Teile.
Ein kleiner Käfer frisst sich durch die Wälder Kanadas. Um den Bedarf zu decken, kaufen die Nordamerikaner den europäischen Holzmarkt leer.
Die Ukraine gilt als der Kornspeicher Europas. Durch den Krieg sieht man sich nicht in der Lage, im Sommer 2022 die Ernte einzubringen. Hungerkrisen im Nahen Osten folgen. Die Preise in der westlichen Welt steigen deutlich an.
China verfolgt auch 2022 eine Null-Covid-Strategie. Damit werden Frachter in Guangzhou weder entladen noch beladen. Diverse Modeketten warten vergebens auf Nachschub im Textilbereich.
All diese Beispiele zeigen, dass eine Katastrophe oder Krise in einem weit entfernten Teil der Welt durchaus schnell auf die hiesigen Märkte wirken können.
Neben diesen schnell durchschlagenden Störungen gibt es auch noch sich langsam anbahnende Probleme, die die Lieferketten stören können. Dazu zählt insbesondere der Fachkräftemangel in den Knotenpunkten (Häfen, Flughäfen) und auf den Verkehrswegen (LKW-Fahrer & Co.). Hier wurde es in vielen Ländern versäumt, Arbeitsplätze attraktiv zu gestalten. Stellen bleiben unbesetzt und führen zu Verzögerungen von Lieferungen. Wenn in einem so angespannten Markt noch eine weitere Störung dazukommt, kollabiert das System schnell. So geschehen in Großbritannien: Mit dem Brexit sind viele ausländische LKW-Fahrer gegangen, mit dem Ergebnis der Mangelwirtschaft. Großbritannien: Lkw-Fahrer-Mangel macht Brexit-Albtraum immer schlimmer - FOCUS online Ein Phänomen, das auch die EU treffen könnte, fehlen doch rund 425.000 LKW-Fahrer.
Lieferketten sind auch an die Erwartungen geknüpft. Wird eine Furcht vor Lieferengpässen geschürt, reagieren Einkäufer häufig mit Hamsterkäufen zur Sicherstellung der Versorgung. Was im Kleinen passiert (z.B. zu Beginn der Pandemie mit Toilettenpapier), lässt sich auch im Großen nachvollziehen: der erwartete Stopp der Gaslieferungen von Russland ließ viele europäische Länder am Spotmarkt Gas einkaufen mit dem Ergebnis, dass die Speicher derzeit (Ende November) im Schnitt zu 98% und mehr gefüllt sind. Der geplante Füllstand von 85% wurde deutlich übertroffen. Gasspeicher-Füllstand in Deutschland aktuell: Greift jetzt der Notfallplan Gas? So voll sind unsere Speicher | news.de
Wie reagieren die Unternehmen auf Probleme in der Lieferkette?
Dass man als Unternehmen nicht die Möglichkeit hat, die Krisen der Welt zu lösen, sollte klar sein. Aber eine sinnvolle und schnelle Reaktion auf Krisen und vorausschauendes Handeln, dass die Krisen sich nicht so stark auswirken, können Unternehmen vor dem Schlimmsten bewahren. Denn: Wer keine Rohstoffe, Einsatzstoffe oder Betriebsstoffe geliefert bekommt, muss über kurz oder lang sein Unternehmen schließen. Eine Umfrage der DIHK-Umfrage Anfang 2022 hat ergeben, dass alle Sektoren in erheblichem Umfang von Lieferengpässen betroffen sind und somit viel Unsicherheit bei den Unternehmen bestehen.
Was sind also sinnvolle Maßnahmen bezüglich einer robusten Lieferkette? Schon vor den aktuell dominierenden Krisen wollten Unternehmen ihre Lieferketten resilienter gestalten. Laut einer Mc-Kinsey-Studie vom Mai 2022 (https://www.mckinsey.com/capabilities/operations/our-insights/how-covid-19-is-reshaping-supply-chains) gehörten dazu insbesondere die größere Bevorratung von kritischen Produkten und die Suche nach und Zusammenarbeit mit weiteren Lieferanten für Rohstoffe. Beide Maßnahmen wurden zwischenzeitlich von vielen Unternehmen in die Tat umgesetzt. Wenig vorangeschritten sind die Unternehmen im Bereich der Regionalisierung und dem Nearshoring.
Auch das Inshoring – also die Erhöhung der eigenen Fertigungstiefe – wird diskutiert, um von Zulieferern unabhängiger zu werden. Viele Unternehmen haben zudem erkannt, dass sie die Transparenz in ihrer Lieferkette erhöhen müssen, um herauszufinden, wie hoch das Risiko ist, dass Zulieferer ausfallen. Dazu müssen sie deren Zulieferer kennen und wissen, welchen Risiken diese ausgesetzt sind.
Kann Regionalisierung die Probleme lösen?
Pauschal kann man das nicht beantworten. Es gibt natürlich viele gute Gründe, Produkte regional zu beziehen: Kürzere Lieferwege, geringere kulturelle und Mentalitätsunterschiede, wegfallende Sprachbarrieren etc. gehören dazu. Doch auf der anderen Seite sind manche Produkte – aufgrund der meist höheren Löhne – auch teurer im Einkauf. Diese müssen über die Preise an die Kunden weitergegeben werden. Hier gilt es jeweils zu prüfen, ob die Kundschaft diese Preise akzeptiert. Und manche Produkte lassen sich regional auch kaum in der benötigten Menge produzieren, da das geeignete Personal nicht verfügbar ist.
Fazit
Unternehmen werden lernen müssen, mit Unsicherheiten in ihren Lieferketten umzugehen. Dabei werden sie neben Effizienz und der Reaktionsfähigkeit auch den Faktor Resilienz in ihre Einkaufsentscheidungen einbeziehen müssen. Daneben wird der technische Fortschritt auch neue Gestaltungsmöglichkeiten bieten, die es zu nutzen gilt. Inshoring, Nearshoring und Regionalisierung der Lieferketten können im Einzelfall wertvolle Ansätze sein, werden aber nicht für alle Unternehmen ein Allheilmittel darstellen können. Die Welt wird arbeitsteilig bleiben. Und das schwächste Glied in der Kette bleibt der Mensch: Denn als Ressource ist er an vielen neuralgischen Stellen knapp und als Entscheider in komplexen Systemen bleibt stets die Gefahr der Fehlentscheidung bzw. Fehleinschätzung.