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Ringvorlesung "Krise im Gesundheitswesen"

Beitrag von Lucia Wenderoth zum Vortrag von Prof. Dr. Thomas Wolf in der Ringvorlesung „Krisen und Auswege“ am 24. Oktober 2022

 
Der promovierte Mathematiker Prof. Thomas Wolf beschäftigte sich von Anfang  seines beruflichen Werdegangs mit dem Gesundheitswesen. Nach einigen Jahren als Biostatistiker in der Pharmaforschung, sowie den Bereichen Organisation und IT, ist er seit dem Jahr 1984 als Unternehmensberater in Berlin tätig. Einige Jahre davon war er mit Schwerpunktthemen Versorgungsmanagement selbständig und bis vor drei Jahren hat der Wissenschaftler auf der kit Karlsruhe Unternehmensarchitekturmanagement und Digitalisierung gelehrt. Im Bundesverband Manage & Care hat er zudem den Bereich E-Health gegründet und war ein paar Jahre im Vorstand vertreten. Parallel dazu war Herr Wolf rund zehn Jahre lang im Ärztenetz die niedergelassenen Mediziner aufgebaut und operativ geführt. 

 

Auch heute ist er immer noch als Berater in Teilzeit aktiv, innerhalb dieses Bereiches liegt sein Fokus auf Digitalisierungstrategien in Kliniken, Omnichannel-Vertrieb in der Pharmaindustrie sowie Pflegedokumentation im Sozialwesen. Nach seiner Überzeugung haben wir eine Krise des Systems und nicht der Medizin, denn wir verfügen sowohl über gute Ärzte als auch gutes medizinisches Ausbildungssystem. Doch in dem Moment, in dem es an das System geht, ist die Bezeichnung Krise durchaus berechtigt. 

 

Der Grundwiderspruch in unserem Gesundheitssystem

Der Grundwiderspruch im Gesundheitswesen besteht zwischen unterschiedlichen Zielen der Gesellschaft und der Akteure im Gesundheitswesen. Die Gesellschaft erwartet gesundes Altern, die Akteure profitieren von langen chronischen Krankheiten.

Die Konsequenzen sind: Egal ob die Ausrichtung des Gesundheitssystems auf das Reparieren von Menschen statt Vorbeugen von Krankheiten, dem chronischen Personalmangel und zugleich unnötiger Überlastung seiner Angestellten durch einen zu hohen Dokumentationsaufwand, oder dem übertriebenen Datenschutz, welcher die Digitalisierung behindert - unser Gesundheitssystem steckt in der Krise, weil es mit zu vielen Grundwidersprüchen zu kämpfen hat.

 

Schaut man sich die Grundwidersprüche genauer an, stellt man fest, dass es unternehmensübergreifend insgesamt viel zu hohe Kosten gibt, weil niemand ernsthaft Interesse daran hat, diese zu senken. Frei nach dem Motto: Wird ja am Schluss alles finanziert. Zugleich  wird an falschen Stellen gespart. Ein konkretes Beispiel: Die multiresistenten Keime in den Kliniken. Die Ursache dafür liegt in dem zu häufigen Verschreiben von Antibiotika. Weil diese tonnenweise in der Tiermast angewendet wird und es viel zu wenig Entwicklung bei der Antibiotika gegen multiresistente Keime gibt bzw. man in diese zu wenig investiert. 

 

Nun könnte man sagen, dass die Pharmaindustrie daran Schuld sei - auf der anderen Seite kann kein Unternehmen Millionen bis Milliarden Euro in die Entwicklung von solchen Medikamenten investieren, wohlwissend, dass diese ohnehin nicht eingesetzt werden dürfen (weil ansonsten neue Resistenzen drohen). Ein anderes Beispiel sind seltene Krankheiten. Diese betreffen rund fünf Mio. Menschen hier in Deutschland - also in Summe gar nicht so selten. Für die Entscheidungsträger handelt es sich hierbei jedoch sehr wohl um einen kleinen Markt - also kümmert sich keiner darum.

 

Maximale Gewinnerzielung durch Spezialisierung

Das aktuelle Abrechnungssystem via Fallpauschale behandelt alle Krankenhäuser gleich. Folglich sind viele Krankenhäuser bemüht, lukrative Hauptdiagnosen zu behandeln und im Zweifel zu operieren. Dies erklärt auch die zahlreichen Kliniken in privater Trägerschaft, welche sich oft auf einen kleinen, besonders gut honorierten Bereich spezialisieren. 

 

„Der Staat versucht zwar immer wieder durch punktuelle Eingriffe in die freie Marktwirtschaft das eine oder andere zu bewirken, doch ein Teil des Problems der industriellen Nicht-Nachhaltigkeit - und das muss ich so offen sagen, ist der Kapitalismus“, kritisiert Prof. Wolf den aktuellen Zustand. „Wenn medizinische Geräte so aufgerüstet werden, dass sie nur einmalig verwenden werden können und dann entsorgt werden müssen, kommen wir auch im Gesundheitswesen immer wieder an ethische Grenzen“, fügt er hinzu. Auch in das Thema Reparatur- und Optimierungsbetrieb wird bis zum heutigen Tage von der Politik nur partikular eingegriffen - eine Neuaufstellung des Systems ist aktuell nicht in Sicht. 

 

Digitalisierung im Gesundheitswesen

Das wichtigste und effektivste Mittel, um gute Zusammenarbeit zu organisieren ist das Schaffen von gemeinsamen Informationen - und hier kommt die Digitalisierung ins Spiel. Was sich auch immer wieder bewahrheitet: Für die eigene Gesundheit ist man in unserem System und in jeglicher Hinsicht selbst zuständig - das sollten sich vor allem die jungen Menschen rechtzeitig vor Augen halten. Genau dafür ist auch die Digitalisierung gut, allein diese Tatsache sollte daher Grund  genug sein, diese zu pushen.

 

Doch der Druck zur Handlung wird auch durch den demographischen Wandel deutlich verstärkt. Zwar ist durch Corona die durchschnittliche Lebensdauer um rund fünf Monate gesunken, betrachten wir die letzten Jahre und Jahrzehnte, muss man feststellen, dass sie tendenziell gestiegen ist. Dadurch nimmt auch die Zahl der chronisch Kranken und Multimorbiden zu. In unserem System bedeutet die Multimorbidität, dass der Bedarf an mehreren Fachärzten auch entsprechend steigt. Umso wichtiger ist die Zusammenarbeit von diesen Fachärzten. Obwohl hier eine fachbereichsübergreifende Kooperation erforderlich ist, fokussieren sich die Leitlinien, (festgelegten Prozesse von beispielsweise chronischen Krankheiten) heutzutage immer noch auf einzelne Krankheiten. Leider traut sich niemand an die Koordination dieser Zusammenarbeiten - denn diese erfordert umfangreiche Informationen - und all das fällt wieder unter das Stichwort Digitalisierung. 

 

Stand der Digitalisierung

Historisch ist das Thema Digitalisierung schon ziemlich alt. Doch es gab von Anfang an eine Art „Geburtsfehler“ bei den ersten Digitalisierungsschritten. Bei dem Thema Gesundheitskarte hat man im Jahr 2004 über eine Infrastruktur beschlossen, ohne irgendeine Idee oder ernsthafte Diskussion wozu diese dienlich sein soll (abgesehen von den Diskussionen über die e-Rezepte). Damals hat sich niemand ernsthaft die Mühe gemacht zu überlegen, was man damit eigentlich erreichen möchte. Es war reine Infrastruktur-Entscheidung und keine nutzergetriebene Entscheidung.

 

Das Ganze wird von dem Paradigma des Datenschutzes überlagert. Dieser kommt der Ansicht von Prof. Wolf nach (leider) sogar vor der Gesundheit. Dies führte beispielsweise bei der elektronischen Gesundheitskarte dazu, dass es nach sieben Jahren und einer neuen Folgekarte zu einer einzigen Erneuerung kam: Einem Foto des Kartenbesitzers. Erst im Jahr 2015 kamen auch neue Inhalte hinzu wie ein elektronischer Medikationsplan sowie ein elektronischer Arztbrief. Was zumindest ganz gut funktioniert hat war das elektronische Stammdatenmanagement. In diesem Zusammenhang ging es vor allem darum, Betrug mit Karten einzudämmen.

 

Bei den Patienten und deren Datenschutz geht es im Prinzip um das gleiche Problem: Das Prinzip der Datensparsamkeit hindert die Digitalisierung am vollen Nutzungsumfang. Allein deshalb ist es einer dreistelligen Anzahl an Krankenkassen hierzulande bisher nicht gelungen, eine gemeinsame Linie zu fahren - und das, obwohl für den Arzt schon aufgrund der Erstellung einer Anamnese essentiell ist, in diese Daten der Patienten einzusehen.

 

Die nächste Erneuerung, angekündigt für März 2023, erwartet uns in Form von einer Digitalisierungsstrategie - es bleibt abzuwarten, wie diese in die Praxis umgesetzt wird. 

 

Zu behaupten, die Digitalisierung hätte nichts gebracht, wäre jedoch falsch. Digitalisierung in Einzelunternehmen war sehr wohl erfolgreich - und zwar genau so erfolgreich wie in anderen Industrieunternehmen. Gerade auf dem Gebiet der Medizintechnik und Robotik sowie der innovativen Wirkstoffentwicklung sind enorme Fortschritte zu verzeichnen. Doch stellen wir die deutschen Kliniken gegenüber der Industrie,  sind zugegebenermaßen die zuletzt genannten weiter. Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass es gute und weniger gute Digitalisierungsprozesse gibt. 

 

Neue Hoffnung in der Digitalisierung

An dieser Stelle ist noch ein positiver Aspekt anzuführen: Hierbei handelt es sich um eine recht gut laufende Aktivität, ein vom Staat gefördertes Programm zum Thema Krankenhaus-Digitalisierung. Das ganze Vorhaben läuft mit einem gewissen Zeitdruck und der Maßgabe, die im Antrag definierten Projektschritte zeitgerecht durchzuführen. Aber: Die Erfolgschancen stehen und fallen mit dem Management der jeweiligen Klinik, da es sich um keine Systemförderung handelt. Auch hier zeigt sich, dass gewisse Entwicklungen und Veränderungen nur erfolgreich umgesetzt werden können, wenn man sie konsequent von A bis Z durchzieht. Zusammenfassend resultiert daraus die Tatsache, dass eine zunehmende und konsequente Umsetzung der Digitalisierung im Gesundheitswesen ermöglichen würde, viele Prozesse gezielt zu steuern und für den Patienten bereits prophylaktisch zu handeln anstatt nur kurativ zu reagieren.

 

Weitere Ursachen und Folgen der Nicht-Digitalisierung

Besonders alarmierend ist für den promovierten Mathematiker die Tatsache, dass der extrem ausgeprägte Datenschutz in Deutschland im medizinischen Kontext bereits zahlreiche Menschenleben gekostet hat. Dies ist aus seiner Sicht ein ganz besonders großes Dilemma.

 

Dass die Digitalisierung hier zu Lande im Gesundheitswesen stagniert, ist laut Prof. Wolf vor allem den Prinzipien, die der Digitalisierung widersprechen zu verdanken: Der Datensparsamkeit, der absoluten Datenhoheit beim Patienten, mangelnder Standardisierung, sowie der Überkomplexität aufgrund der Datensicherheit (z B. die elektronische Krankschreibung). Letztendlich stellt sich die große Frage: Möchte man Gesundheit durch Digitalisierung fördern, oder möchte man mehr Datensicherheit auf Kosten der Gesundheit? Entscheidet man sich für den zweiten Weg, ist es zwingend notwendig, die Vollständigkeit zu erzwingen, begleitet z. B. durch Kriminalisierung des Datenmissbrauchs, mindestens jedoch zu einem Opt In mit klarer Verantwortung des Patienten überzugehen. Überzeugungsarbeit gegenüber den Ärzten ist dagegen weniger von Nöten, denn die praktische Erfahrung zeigt, dass die kassenärztliche Vereinigung mit Anpassungen und Änderungen der Honorarsysteme bereits Erfahrung hat und die meisten Artzpraxen nach einer gewissen Übergangszeit nicht nur mitziehen, sondern mögliche Optionen des Systems sehr schnell kennen. 

 

Prinzipiell ist Digitalisierung schon ein Mittel, um viele Schwächen des Gesundheitssystems zumindest zu verbessern. Aber: Das System ist in der Krise, weil es keine Governments hat. In einzelnen Unternehmen mag es vielleicht funktionieren, aber nur, weil es dort sowas wie Entscheidungswege gibt. Der Entscheider für dieses System müsste das Ministerium mit den Parlamenten sein - und die nehmen genau diese Verantwortung seit Jahrzehnten nicht wahr. Hoffen wir, dass die laufende Digitalisierungsinitiative einen Neuanfang bringt.